Agoraphobie 2.0 - Mein Kampf gegen die Angst

Schon oft habe ich versucht, mit Worten zu beschreiben, wie sich die letzten 3 Jahre für mich angefühlt haben.
Die Reaktionen der Leser zeigten mir zwar, dass meine Worte ankamen und verstanden wurden, für mich ist dieses Kapitel jedoch noch nicht abgeschlossen.

Es gibt immer noch Dinge und Situationen, die ich langsam oder anders angehen muss und mir fallen dabei immer wieder neue alte Erinnerungen ein, die ich verdrängt hatte.
Jetzt könnte man meinen, diese Erinnerungen gingen keinen etwas an, aber ich habe keine Angst, darüber zu reden oder zu schreiben, tatsächlich hilft es mir, mich und meine Psyche in bestimmten Situationen noch besser verstehen zu können und auch meinem Umfeld begreiflich zu machen, warum ich so fühle wie fühle.

Während meine beste Freundin mich bereits „Xtreme Rebel Lea 2.0“ nennt, weil ich frei von Panikattacken bin und wieder jede Situation meistern kann, die mir unüberwindbar vorkam, muss ich mir oft ins Gedächtnis rufen, wie viel ich tatsächlich erreicht habe.
Denn natürlich ist da immer noch ein bisschen Angst übrig, die ich bändigen oder einfach über mich ergehen lassen muss und sei es auch nur dieses blöde Herzrasen, obwohl ich eigentlich gar nicht so aufgeregt bin, wie mein Körper wieder tut.
Mittlerweile kann ich meistens darüber lachen, wenn mein Körper mal wieder Gefahr wittert, wo absolut keine ist, aber das war nicht immer so.

Wie sind diese Panikattacken überhaupt entstanden?
Meine Therapeutin hat mir das so erklärt:
Jeder Mensch hat mehr oder weniger stark ausgeprägte Urinstinkte, die wir von unseren Vorfahren übernommen haben.
Eine davon ist der natürliche Fluchtinstinkt, wenn Gefahr droht.
Stresshormone werden ausgeschüttet, darunter Adrenalin: Puls und Blutdruck steigen an, Muskeln werden angespannt, der Atem geht schneller und das Gehirn stellt sich auf das Wesentliche ein: Bereit für den Kampf oder die Flucht.

Alles begann ungefähr im September 2011, ich war gerade als Austauschschülerin in den USA.
Anfangs fühlte es sich an wie eine normale Erkältung.
Ich war immer müde, schlapp, mir war oft schwindelig und das Atmen fiel mir schwer, dazu kam, dass ich manchmal am ganzen Körper zitterte und mir schwarz vor Augen wurde.
Lange nahm ich das einfach so hin, weil die Ärzte mir eintrichterten, das käme von der Erkältung und dem ungewohnten Umfeld. Bald würde es mir sicher besser gehen.
Stattdessen wurde es schlimmer.
Bei jeder Blutabnahme fiel ich in Ohnmacht (wobei ich mich immer noch frage, was die Ärzte mit dem Blut angestellt haben), ich war morgens zu kraftlos, um zur Schule zu gehen und manchmal saß ich auf meinem Bett und wusste nicht mehr, was ich die Stunde zuvor getan hatte. Erinnerungslücken.

Ich fürchtete mich, abends schlafen zu gehen, weil ich Angst hatte, nicht mehr aufzuwachen.
Ein unwirkliches Gefühl begleitete mich, als würde ich in einer Seifenblase stecken und mich von oben herab beobachten.
Ich dachte, ich würde verrückt werden, weil ich mir all das laut der Ärzte nur einbilden würde.

Vermutlich begannen die Panikattacken bereits dann, aus dem einfachen Grund, da mein Körper so geschwächt war und es mir so schlecht ging, dass er die Gefahr nicht mehr richtig einordnen konnte.
So einfach entsteht eine Angststörung.

Nun war mir natürlich nicht bewusst, dass das, was ich durchmachte, auch noch von Panikattacken gespickt war.
Ich musste zu dieser Zeit oft aus dem Unterricht, da mir wieder schwarz vor Augen geworden war und das eine Panikattacke ausgelöst hatte.
Es verging kein Tag, an dem meine Gastmutter mich nicht früher abholen musste.

Diagnose: Diabetes Typ 1
Da ich außerdem immer weiter abnahm, kaufte mir meine Gastfamilie in ihrer Verzweiflung Nährstoffshakes und diese kleinen Flaschen mit blauem Deckel markieren für mich den ersten Wendepunkt meiner Geschichte.
Es war wieder einer dieser Tage, wo ich den ganzen Tag im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, um dem Schwindel zu entkommen.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Schwindelanfall, der auf den Nährstoffshake folgte, alles in den Schatten stellte.
Woran ich mich erinnern kann, ist, dass sich der Raum drehte und ich verzweifelt versuchte, meine Augen offen zu halten, was mir nicht gut gelang.
Ich bekam keine Luft und hyperventilierte, mein Gastvater trug mich ins Auto und wir fuhren ins Krankenhaus, dazu noch eine ganze Reihe an Eindrücken und Emotionen, die ich nicht beschreiben kann.
Im Krankenhaus musste ich in eine braune Tüte atmen, mein Blut wurde untersucht und eine ganze Reihe an Tests folgten.
Komisch, dass ich mich daran erinnern kann, wie meine Gastmutter und ich anfangen mussten, zu lachen, als ich dort mit der blöden Tüte saß und endlich eine Diagnose bekam: Diabetes Typ 1.

PC234764
Damals: Mit Rollstuhl bei Abraham Lincoln am Flughafen posieren 

Ich wurde falsch behandelt
Klar, könnte man denken. Erleichterung. Endlich würde es bergauf gehen.
Nach einem üblen Glukosetoleranztest, es war der schlimmste Tag meines Lebens, war klar, dass die Diagnose stimmte. Nach 2 Monaten, in denen es mir so dreckig ging, dass ich nur im Bett liegen konnte, aber mir angeblich alle Beschwerden nur eingebildet hatte.
Leider wurde es nicht besser, da ich trotz der Diagnose falsch behandelt wurde, nämlich wie ein Typ 2 Diabetiker mit einer strengen Diät, die selbst hier bei uns in Deutschland so nicht mehr üblich ist.

Der Entschluss, endlich nach Hause zu fliegen, war nicht einfach und ich habe mich lange dagegen gesträubt, meinen Traum „Auslandsjahr“ aufzugeben, aber die Verzweiflung meinerseits war einfach zu groß.
Ich traute mich nicht mehr aus dem Haus, ich war zu schwach, um im Stehen zu duschen und ich nahm immer weiter ab, obwohl ich die Diät nicht mehr befolgte.

Ich musste viel neu lernen
Psychisch und physisch am Tiefpunkt kam ich in Deutschland an und verbrachte sehr viel Zeit im Krankenhaus.
Ich musste lernen, meinen Alltag mit Diabetes zu managen, die Panikattacken zu bändigen und wieder entspannen zu können.
Ich musste Mut aufbringen, um wieder aus dem Haus zu gehen, meine Muskeln aufzubauen und in Menschenmassen nicht den Kopf zu verlieren.

Ich konnte nicht mal zehn Minuten spazieren gehen, ohne völlig fertig zu sein.
Ich hielt die großen Pausen in der Schule nicht aus und verbrachten diese oft auf der Toilette oder in einer ruhigen Ecke.
Ich konnte nicht einfach in die Stadt oder ins Kino, weil mir große Plätze Angst machten.
Ich war lange Zeit sehr angespannt, konnte keine fünf Minuten still sitzen und ertrug nur so viel körperliche Nähe wie zu einer kurzen Umarmung nötig war.

Und das sind nur einige der Dinge, für die ich kämpfen musste und auf die ich zurückblicke, wenn ich mal wieder unzufrieden über meine Leistungen bin.
Denn sicher ist: Ich habe eine Menge erreicht und kann stolz auf mich sein.
Was ich anderen (vielleicht) wiederum voraushabe, ist, dass ich weiß, wofür es sich zu kämpfen lohnt und ich jeden Tag mit der Gewissheit aufstehe, dass ich alles schaffen kann, wenn ich es nur will.

In meiner Geschichte bin ich die Gewinnerin.